WG119 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, von Sonntag, 29. Januar 1911 bis Mitte Februar 1911

Ich kenne die Zukunft nicht,
aber ich kenne d. ewige Gesetz
der Veränderung. Was man
geschaffen hat das bleibt.
Was bringt philosophieren
u grübeln; je tätiger je
besser u mir ist ein
Mißglücken lieber, als
ein Stillsitzen.

 Ich gehöre nicht zu den
Menschen die das Leben
nicht lieben und jeden
Augenblick bereit sind,
zu leiden u zu sterben

 Die schönsten Bauten sind
die, die man im Bette malt \baut/,
die man aber nie ausführt,
Ich möchte eine große Fabrik

ganz aus weißem Beton bauen,
nichts wie nackte Mauern
mit Löchern darin \große Spiegelglasscheiben/ u ein
schwarzes Dach. Eine große
reine, reich gegliederte Form
durch keine kleinen Farb-
unterschiede \malerische Valeurs/ u Architektürchen
gestört muß durch die
hellen Wände u Schlag-
schatten wirken \einfach – groß/
\eine ägyptische Ruhe/

 Ich komme immer mehr
zu der Überzeugung, daß die
Arbeit die einzige wirk-
liche Gottheit unserer Tage
ist und daß man ihr
in der Kunst zum Aus-
druck verhelfen muß.

 Die Leidenschaft für die
Kunst ist eine unglückliche
Veranlagung.

[am linken Blattrand:]
Das ist sicher ein neuer Gedanke

  i. d. Architektur

meine Knochen in den Fin-
gern gefühlt

Ich suche nach etwas, das

mich bedingungslos fortreißt,
mich in jedem Falle aus-
füllt u über Wasser hält,
selbst wenn ich nächtens
die Nachricht von Dir be-
käme, Du bliebest noch ein
Jahr in Amerika (das soll
in der Zeitung gestanden
haben, vorläufig will ich
noch nicht daran glauben)
Nun darüber lasse ich mich
nicht aus. ich \bewu[ndere]/ würde die
Klugheit Deines be-
wundern u fürchten

 Ich kann nicht zeichnen, aber
ich beginne mich damit abzu-
finden, ist es nicht vielmehr
die Stärke des Gedankens, die wir
suchen!?

Es muß herrlich sein einem großen
Fortzeugenden Gedanken richtungs-
los zu folgen \d. Geist d. Menschheit edel umzubilden/ und zu predigen
mit Worten oder mit Taten.
Ich ringe \da/nach. Es ist der einzige
Weg, seine \unglückliche/ Leidenschaften zu
besiegen \die doch nie z. Glücke führen/. Aber ich schwanke noch
zu stark im Winde, vielleicht ist \es geht/
bei jedem Künstler auf Tod u
Leben – geistig. Es giebt Stun-
den ganz alberner Schwäche, wie
leicht kann das alles zerbrechen
\Meine/ Ich habe vom Leben die Auf-
fassung eines Hazardspielers
par excellence wenn ich auch
täglich u stündlich mich zu der
Einbildung zwinge, als sei
ich der Former dieses Gebildes
so halten sich wieder die
Kontraste die Wagschale

 Was muß Dein Glauben
helfen u geholfen haben. Ich

habe dasselbe schon an Dir gespürt.


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , .

Quellenbeschreibung

4 Bl. (4 b. S.) – Viertel eines Papierbogens.

Druck

, S. 57, bei Anm. 38 (Auszug) und S. 62, bei Anm. 60 (Auszug), , S. 52, bei Anm. 52 (Auszug).

Korrespondenzstellen

keine.

Datierung

Fehlende Korrespondenzstellen erschweren die Datierung dieses Entwurfs. Die Datierung erschließt sich daher einerseits aus dem Inhalt, andererseits aus der Nachricht, AM bliebe noch ein Jahr in Amerika. Da sich frühestens am 29. Januar 1911 eine solche Meldung in der deutschen Presse nachweisen lässt, kann dieses Datum als frühster Entstehungszeitpunkt angenommen werden, wobei WG auch durch Dritte zu einem späteren Zeitpunkt von der Nachricht erfahren haben könnte. Inhaltlich drehen sich WGs Ausführungen im vorliegenden Entwurf um den Industriebau, der ihn im Rahmen seines Hagener Vortrages Monumentale Kunst und Industriebau () wahrscheinlich im Januar 1911 in eigener Sache besonders beschäftigte. So ist auch auf dem Vortragsmanuskript WGs das Datum 29. Januar 1911 vermerkt, wobei nicht klar ist, worauf sich das Datum bezieht. Zudem traf WG in der ersten Februarwoche , den Auftraggeber des , zum ersten Mal in Hannover (, S. 244), weshalb es nahe liegt, dass WGs Fantasie einer idealen Fabrik in dieser Zeit entstanden ist.

Ab Mitte Februar 1911 wurden WGs Entwürfe an AM von einem anklagenden Ton geprägt (WG121 und WG122, beide vom 15. oder 16. Februar 1911) und ab dem 19. Februar vom Tod seines (WG124 und WG125). Als Datierungszeitraum für diesen Entwurf wird daher frühestens der 29. Januar bis Mitte Februar 1911 angenommen.

Themenkommentar

Übertragung/Mitarbeit


(Tim Reichert)


A

in der Zeitung – Meldungen dazu in der Frankfurter Zeitung vom 29. Januar 1911 via , S. 2. Siehe auch Datierung.